Am 1. November 1918 gegen 19 Uhr versammeln sich 250 Matrosen im Gewerkschaftshaus, um über die Fortführung des in Wilhelmshaven begonnenen Militärstreiks zu beraten, die Freilassung ihrer festgenommenen Kameraden – wenn nötig mit Gewalt – zu betreiben und sich am nächsten Tag wieder zu treffen. Aus der Initiative dieser Gruppe, die 0,3 Promille des zu dieser Zeit in Kiel anwesenden Marinepersonals ausmacht, wird drei Tage später ein bewaffneter Aufstand der Soldaten und Arbeiter entstehen, der an einem Tag die alten Gewaltinhaber entwaffnet.
Die sozialdemokratische Führung will keine Revolution
Am 3. November bittet der Militärgouverneur in Kiel darum, die Regierungssozialisten mögen „einen hervorragenden sozialdemokratischen Abgeordneten hierherzuschicken, um im Sinne der Vermeidung von Revolution und Revolte zu sprechen“. Gleichzeitig erteilt er den Schießbefehl auf die Großdemonstration zur Befreiung der festgenommenen Matrosen; 7 Tote bleiben zurück. Der vom Kieler Gewaltinhaber erwünschte Abgeordnete erscheint auch am Abend des 4. November in Gestalt des Sozialdemokraten Gustav Noske. Dieser wird von jubelnden Menschenmassen empfangen und auf Schultern aus dem Bahnhof getragen. Am 5. November wird er zum vorläufigen Vorsitzenden des gerade gegründeten Soldatenrates bestimmt. Welch Missverstehen: Die revoltierenden Arbeiter und Matrosen glauben, dass dieser Abgeordnete Gustav Noske, der zur Vermeidung der Revolution kommt, ihren Aufstand unterstützt.
Am 6. November endet der Irrtum der Kieler Revolutionäre im Kieler Schlosshof, als Noske Klartext redet und von einer großen Versammlung rebellierender Arbeiter und Soldaten verlangt, die Revolution abzubrechen. Für die Anwesenden ist das verkehrte Welt, Noskes Ansinnen wird abgelehnt. Am 7. November legt er sein Amt als Vorsitzender des Soldatenrates nieder und übernimmt das Amt des Militärgouverneurs. Von dort aus hintertreibt er die Politik der Räte und beginnt aus kaisertreuen, reaktionären Offizieren Freikorps aufzubauen, um so Gewaltmittel gegen die Revolution vorzubereiten. Kein Aufbruch: Kontinuität der Eliten statt Revolution
Dieser Verlauf des Kieler Matrosenaufstandes zeigt, wie in einer Nussschale, den Verlauf der Novemberrevolution in Deutschland. Auf der einen Seite stehen die in den Bewegungen für Frieden und soziale Demokratie politisch erwachten Revoltierenden und auf der anderen Seite ihre parlamentarische Vertretung, die aber nicht für die soziale Demokratie, sondern für eine Republik einstehen, die sich auf monarchistische und autoritäre Eligen in Justiz, Verwaltung, Militär und Bildungssystem stützt. Die sozialistische Regierung versagt in der Zeit vom 10. November 1918 bis zur Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 vor der zentralen Aufgabe der Zeit, der Einleitung eines verfassungsgebenden Prozesses. Das ist zutiefst rückwärtsgewandt.
Eine starke Demokratie braucht eine starke Linke
Wenn die Stadt Kiel heute den Kieler Matrosenaufstand zu Recht als Aufbruch zur Demokratie feiert, so feiert sie eine Revolution, die nie zu Ende geführt wurde. Die demokratische Massenbewegung hätte eine stabile Demokratie errichten können, aber die Chance wurde vertan. Der Kaiser ging, die Generäle blieben.
Dr. Bernd Zöllner (ATTAC) , Historiker und Dr. Thomas Herrmann (LINKE), Historiker und Soziologe führen durch die bewegten Zeiten 1918 bis 1920. Sie werfen einen frischen Blick auf die Hintergründe und diskutieren folgende Fragen:
Was geschieht in Kiel in den Tagen vom 1. Bis zum 7. November?
Warum beenden die Soldaten den mörderischen Krieg nicht schon sehr viel früher?
Wie gelingt es der rechten SPD-Führung die Partei zu spalten?
Welche Vorstellungen und Ziele hatte die demokratische Linke?
Welchen Einfluss haben die Oktoberrevolution in Russland und der Frieden von Brest-Litowsk auf die Ereignisse in Deutschland und auf die antidemokratische Linke?
Wäre es auch ohne den verlorenen Krieg zur Revolution gekommen?
Welche Rolle spielen die Räte?